Freitag, 9. September 2016

Buchbesprechung: Bilqiss

Bilqiss
Rezension

SAPHIA  AZZEDDINE

BILQISS   Roman


Man stelle sich folgende Situation vor: Ein Muezzin, der betrunken und unfähig ist, die Gläubigen zum Gebet zu rufen! Was macht seine Frau? Sie bittet ihre Nachbarin um Hilfe. Da es schnell gehen muss und die nächste Moschee weit entfernt ist, nimmt sich die Nachbarin die Freiheit und steigt selbst auf das Minarett und ruft zum Morgengebet. Eine verrückte Idee. Nicht nur, dass sie als Frau dieses Amt in diesem Moment übernimmt, sie erlaubt sich auch gleich den Bäcker, Gemüsebauern, Gärtner, die die Gemeinde ernähren und den Lehrer für Geschichte und Geographie, die sie vom Minarett aus sieht, im Namen Allahs für ihre vollbrachten und guten Taten zu loben. Welche Ungeheuerlichkeit in einem streng islamischen Land, in dem Frauen die Burka tragen müssen und auch sonst nichts zu sagen haben.

Es war einmal in einem islamischen Land
Das Land selbst wird nicht genannt. Man kann sich einige Länder vorstellen, in denen die Handlung spielen könnte. Einige amerikanische Soldaten sind in dem Ort stationiert, der nicht näher benannt wird.  
Nach dem sich die Leute den Schlaf aus den Augen gerieben haben und von der ersten Überraschung schockiert aufgeschreckt sind, wurde Bilqiss, so der Name der Nachbarin, verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Dieser Name wurde von der Autorin nicht grundlos ausgewählt. Bilqîs, Bilkis oder Balkis ist der Name der sagenhaften, klugen und schönen Königin, der Herrscherin von Saba, die nach Jerusalem zu König Salomon, im Islam unter König Suleyman bekannt, reiste.

Aubergine als Phallus-Symbol
Nach der Durchsuchung ihres Hauses kommen weitere „Todsünden“ zum Vorschein: Damenunterwäsche, Seidenstrümpfe, Make-up, Stöckelschuhe, Musikkassetten, Zeitungen, persische Gedichtsammlungen, also „alles, was Männer in Versuchung führen könnte“. Den Computer, das „Tor zur freien Meinungsbildung“ haben sie nicht gefunden. Sogar die Aubergine und Zucchini aus dem Kühlschrank werden beschlagnahmt! Sie dürfen nur in Stücke geschnitten auf dem Markt an Frauen verkauft werden, denn die Form könnte Frauen an einen Phallus erinnern und erregen, ereifert sich Herr Karzi, der Hauptankläger. Das Urteil kann also nur Tod durch Steinigung lauten. Für die Männer im Dorf gibt es keinen Zweifel.

Bilqiss und der Richter
Um vor tätlichen Angriffen geschützt zu sein, muss Bilqissin einem Käfig die Gerichtsverhandlungen überstehen. Der Richter zögert das Urteil vollstrecken zu lassen. Im Gegenteil, er geht zu Bilqiss ins Gefängnis. Was will er dort?  Nacht für Nacht diskutieren Bilqiss und der Richter, dem allmählich Zweifel an dem Urteil kommen. Wenn sie sich doch nur entschuldigen würde, dann könnte er Bilqiss retten…

Selbst ist die Frau
Aber Bilqiss denkt nicht daran, denn sie hat nichts Unrechtes getan. Bilqiss, die auch noch Witwe ist,  hat nichts zu verlieren. Sie wurde bereits verurteilt. Frei und selbstischer verteidigt sie sich und wehrt alle Anschuldigungen ab, im Gegenteil, sie führt dem Richter und auch den Zuhörern die absurden Gedanken der „Sittenwächter“ vor Augen und widerlegt mit Hilfe ihres gesunden Menschenverstands und des Korans, den sie nach ihrem Empfinden interpretiert, die Vorwürfe. Was hat sie getan? Sie rief die Gläubigen zum Gebet und fügte einige Sätze hinzu. Sollte das schon ausreichen, um sie zu steinigen? Islamische Rechtsgelehrte diskutieren um ein „juristisches Exempel zu statuieren“. Aber wie sollte die Strafe ausfallen?

Gotteslästerung oder Wahnsinn ?
„Handelte es sich um Gotteslästerung oder war es eine Ausgeburt des Wahnsinns? Darum drehten sich die Betrachtungen der Muslime von heute, während woanders Leute zum Mond flogen. … Seit sieben Jahrhunderten… zahlte die muslimische Welt einen hohen Preis dafür, dass sie ihrer weiblichen Hälfte Maulkörbe anlegte….Weit zurück lag die Zeit, als der geistige Wert eines Muslims sich nach der Anzahl der Bücher in seinem Besitz richtete, als Bibliotheken… aus dem Boden schossen und Moscheen nicht nur Gebetshäuser waren, sondern das Wissen verkörperten an dem Männer und Frauen unterschiedslos teilhaben konnten...“ klagen Bilqss und die Autorin zu Recht an.

Der Fall wird international
Inzwischen hat jemand die Gerichtsverhandlungen gefilmt und im Internet verbreitet. Dies sieht eine amerikanische Journalistin, die sich auf den Weg macht, um Bilqiss zu interviewen. Kann sie Bilqiss retten oder kommt sie zu spät?


Autorin:
Saphia Azzeddine wurde 1979 in Agadir/Marokko geboren. Als 9jährige zog sie nach Frankreich. Nach dem Soziologiestudium verbrachte sie ein Jahr in Houston, arbeitete als Diamantschleiferin in Genf  und etablierte sich dann als Journalistin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin.
Im Wagenbach-Verlag erschienen außerdem ihr Roman Zorngebete (Buchbesprechung hier) und Mein Vater ist Putzfrau.


Fazit:
Saphia Azzeddine beschreibt mutig und selbstbewusst die arrogante Sichtweise vieler Männer (nicht nur) in der islamischen Welt. Höhepunkt deren Genugtuung ist die Steinigung, die Vernichtung des Weiblichen, das sie reizt und von der religiösen Bigotterie ablenken könnte. Welche Absurditäten und Auswüchse dieses krude „Männerdenken“ zu Tage fördert, belegt die Autorin mit zahlreichen und auf den Punkt formulierten Beispielen. Sind die Szenen vielleicht übertrieben dargestellt ? Das mag der Leser selbst beurteilen, die Autorin stellt nur fest, sie verurteilt nicht.

Die Amerikaner, die „hilfreichen Soldaten“ und die „mitfühlende Journalistin“ werden vorgeführt und mit ihren eigenen „Waffen“ (Arroganz und Sensationslust) geschlagen.
Nur weil sich der Richter in Bilqiss verliebt, zögert er die Verhandlung in die Länge, das heißt auch er denkt vorrangig an sich und seine Phantasien…

Ein genial geschriebenes Buch, nicht nur über „muslimische“ Männerphantasien, das man gelesen haben sollte, eingebettet in einen Rahmen, der an die Geschichten aus 1001 Nacht erinnert. Gleichzeitig eine Anklage an die Rückständigkeit der islamischen Obrigkeit, während die Menschen schon viel weiter sind. Eine echte Bereicherung, sehr gut.



Veranstaltungstermine
Mittwoch, 19. Oktober 2016
Stuttgart Stadtbibliothek

Donnerstag, 20. Oktober 2016
Karlsruhe, Centre Culturel Franco-Allemand

Montag, 28. November 2016
Berlin, Heimathafen Neukölln